
 | Vorwort |
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Sic transit gloria mundi
Liebe Sammlerfreunde,
Ihr Vorwortschreiber befindet sich in einer gewissen Zwickmühle. Wir haben, während ich meine Gedanken in die Tastatur hämmere, gerade mal Mitte November. Zur Erheiterung der geneigten Leserschaft soll ich nun etwas nett zu Lesendes schreiben, das besagte Leserschaft aber überhaupt erst nächstes Jahr Anfang Februar zu sehen bekommen wird. In dieser schnelllebigen Zeit mit immer neuen und meist unerwarteten Wendungen kommt diese Aufgabe fast der Quadratur des Kreises gleich.
Alle Welt redet heute über kaum noch zu bekommende Handwerker, geschweige denn Baumaterial, Chipmangel und exponentiell steigende Rohstoffpreise. Dabei möchte ich, und das ist ja wirklich noch nicht so besonders lange her, der geneigten Leserschaft mal eine Überschrift aus dem „Handelsblatt“ vom 21.4.2020 in Erinnerung rufen: „Das hat es bisher noch nicht gegeben: Erstmals kostete US-Rohöl weniger als null Dollar. Wie es dazu kommen konnte – ob es dabei bleibt.“ Und weiter im Text: „Autofahrer und Nutzer von Ölheizungen können sich also vorerst weiter auf niedrige Preise einstellen.“ Mit dem Wissen von heute eine etwas kurzlebige Prognose.
Der Verfasser dieser Zeilen möchte sich jetzt bestimmt nicht mit Weihrauch einhüllen, sondern nur der Vollständigkeit halber erwähnen, dass er die mit 30.000 l völlig überdimensionierten Öltank-Batterien unseres in die Jahre gekommenen Bürogebäudes im November 2020 bis zur Halskrause mit Heizöl vollgeknallt hatte. Für gut 32 Cent den Liter. Das leitet über zu dem Umstand, dass man Sie, geneigte Leser/in, zu Ihrem Hobby nur beglückwünschen kann.
Warum? Nun ja, möglicher Weise hätte es die Heizöl-Kaufentscheidung vor gut einem Jahr gar nicht gegeben, wenn sich der Verfasser dieser Zeilen zuvor nicht fast 40 Jahre lang mit Finanz- und Wirtschaftsgeschichte beschäftigt hätte. Man mag es kaum glauben, aber es ist eine Tatsache: Was wir durch die Beschäftigung mit unseren geliebten historischen Wertpapieren dazulernen, das entfaltet regelmäßig auch Geld werten Nutzen in unserem täglichen Leben.
Nichts könnte einem das eindrucksvoller vor Augen führen als das Titelbild dieses Auktionskataloges, der wunderschöne Bond der South Manchurian Railway Company. Hübsch, würde man sagen, wenn man mit Detailwissen noch nicht vorbelastet ist, ganz toller Stahlstich, habe ich eigentlich auch noch nie gesehen.
Dann kam die Recherche. Lassen wir mal ganz außen vor, was man bei der Lektüre über geopolitische Besonderheiten des beginnenden 20. Jh. lernt, aus einer Ecke der Welt, die wir Europäer bis vor kurzem nie richtig auf dem Schirm hatten. Das allein ist schon spannend.
Der japanische Einfluss in der Mandschurei reichte seit dem Sieg im russisch-japanischen Krieg im Jahr 1905 bis fast vor die Tore Pekings und gipfelte in dem 1932 von den Japanern errichteten Marionettenstaat Mandschukuo mit Pu Yi als Herrscher. Der übrigens bis 1912 der letzte Kaiser von China gewesen war. Schon geht ein Lächeln über das Antlitz der geneigten Leserschaft: Aber klar, den Film kennt man.
Und dann kommt die Geschichte des Unternehmens selbst, das Zeitgenossen in aller Bescheidenheit als „Japan’s East India Company in China“ bezeichneten. Das ein Direktor der US-amerikanischen Erie Railroad bei einem Besuch tief beeindruckt beschrieb als „The only Railroad in the whole world that is like our American Railroads (and they are, fairly speaking, the best).”
Die South Manchurian Railway Company war keine Eisenbahn in der Mandschurei. Sie war die Mandschurei. In Nordchina beherrschte sie auf einer Fläche größer als Westeuropa das gesamte wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben. Sie betrieb Kraftwerke, Kohleminen, Stahlwerke, Porzellanfabriken und ausgedehnte landwirtschaftliche Güter.
Formell in Tokyo domizilierend war diese halbstaatliche Firma die mit Abstand größte Aktiengesellschaft im japanischen Kaiserreich und trug allein mehr als ein Viertel zu den gesamten Steuereinnahmen des Landes bei.
Nach dem Bruch des von Stalin erst 1941 mit Japan geschlossenen Neutralitätsabkommens trat die Sowjetunion drei Monate nach Kriegsende in Europa in den Pazifikkrieg ein. 1,5 Mio. Soldaten in 80 Divisionen überrollten die Mandschurei in der „Operation Auguststurm“ in kaum mehr als einer Woche. Die zahlen- und ausrüstungsmäßig hoffnungslos unterlegene japanische Kwantung-Armee hatte keine Chance.
Am Ende kamen die Japaner sogar noch mit einem blauen Auge davon. Zwar eroberte die Sowjetunion die Inselkette der Kurilen, die sich über 1.200 km zwischen der Halbinsel Kamtschatka und der Insel Hokkaido erstreckt. Doch ursprünglich hatten die sowjetischen Invasionspläne auch die Eroberung der Insel Hokkaido selbst vorgesehen, womit Japan im Norden mehr als 20 % seines Staatsgebiets verloren hätte. Erst vor diesem Hintergrund kann man den bis heute andauernden Kurilenkonflikt der beiden Staaten verstehen, in dem selbst der kleinste Felsbrocken im Meer unversehens Stein des Anstoßes werden kann.
Nach der Besetzung der Mandschurei wurde die South Manchurian Railway zunächst von den Sowjets weiterbetrieben und nach Errichtung der Volksrepublik China 1949 der China Railway übergeben. Die japanische Aktiengesellschaft in Tokyo wurde auf Anordnung der US-amerikanischen Besatzungsbehörden sang- und klanglos aufgelöst. Bildlich gesprochen endete die noch wenige Jahre zuvor größte japanische AG wie ein weggeworfener Zigarettenstummel auf der Straße. Sic transit gloria mundi.
Nichts könnte es plakativer zeigen als unsere historischen Wertpapiere: Unternehmen kommen, Unternehmen gehen. Manchmal, siehe die glorreiche A.E.G., dauert ihre Blütezeit viele Jahrzehnte. Manchmal, siehe Wirecard, ist schon nach wenigen Jahren Schluss.
Und manche geistern eine halbe Ewigkeit als Untote durch die Weltgeschichte: Schauen Sie nur mal das Los … an, die 1893er Aktie der Friauler Eisenbahngesellschaft. Die Geschichte des Friaul war schon immer bewegt, 1797 wurde es durch den Frieden von Campo Formio österreichisch und 1815 innerhalb der k.u.k. Monarchie Teil des Lombardo-Venezischen Königreichs. Nach dem 3. italienischen Unabhängigkeitskrieg 1866 kam der größte Teil zum neu gegründeten Königreich Italien, der Rest erst 1919 nach dem 1. Weltkrieg.
Die politische Landkarte änderte sich, der Kapitalismus nicht. Die Bahnlinien betrieb zwar nun die italienische Staatseisenbahn. Doch sie blieben Eigentum der weiter existierenden k.k. priv. Friauler Eisenbahn-Gesellschaft, die sich erst fast ein Jahrhundert später 2008 mit dem italienischen Staat auf eine vergleichsweise Übertragung einigte und dann endlich sanft entschlafen durfte.
Die Geschichten, die uns die alten Wertpapiere erzählen, sind dem Sammler immer wieder eine höchst anregende Lehrstunde in ökonomischen Fragen und oft weit darüber hinaus. Davon wird man gemeinhin nicht dümmer.
Noch viele lehrreiche Erkenntnisse wünscht Ihnen mit den besten Sammlergrüßen
Ihr
Jörg Benecke
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